Immer mehr junge Tschechen zeigen Reife im Umgang mit der Geschichte. Sie schreiben über Geschichte, Vertreibung, Täter und Erinnerung – und bauen damit Brücken für eine gemeinsame Zukunft.

Audio: Reife zeigen durch Erinnerung Henry Ertner

Die Vergangenheit ist kein abgeschlossenes Kapitel. Sie lebt in Familien, in Städten, in stillen Lücken der Erinnerung. In Tschechien war die Auseinandersetzung mit der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg lange ein Tabuthema – emotional aufgeladen, politisch heikel.

Doch eine neue Generation junger Tschechen zeigt, dass man der Geschichte nicht ausweichen muss. Sie zeigt Reife – nicht, weil sie alles weiß, sondern weil sie bereit ist, zu fragen. Ihre Texte sind keine Schuldbekenntnisse, sondern Zeichen einer offenen, verantwortungsvollen Gesellschaft.

Auf www.medium.cz sind in den letzten Monaten mehrere solcher Beiträge erschienen. Drei davon möchte ich Henry Ertner vorstellen – als Beispiele dafür, wie historische Aufarbeitung nicht nur möglich ist, sondern hoffnungsvoll stimmen kann.

1. Jakub Kapaník: Der Hungerzug von Krnov – organisiert von Tschechen

Im Juni 1945 wurden rund 5.000 deutschsprachige Zivilisten aus Krnov (ehemals Jägerndorf) von Vertretern der tschechischen Behörden zu Fuß aus der Stadt vertrieben. Unter den Betroffenen waren viele Frauen, Alte und Kinder. Über 300 Menschen überlebten diesen sogenannten „Hungerzug“ nicht.

Kapaníks Text tut, was lange fehlte. Er nennt Fakten, stellt Fragen – ohne zu relativieren, aber auch ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben. Das ist Ausdruck einer Haltung, die viel mit Reife zu tun hat. Die Bereitschaft, auch dann Verantwortung zu übernehmen, wenn es unbequem wird. Denn nur wer eigene Schatten anerkennt, kann sie hinter sich lassen.

Original Beitrag auf Tschechisch

Der Hungerzug aus Krnov kostete 300 Menschen das Leben. Er wurde nicht von Deutschen organisiert, sondern von Tschechen.

Hladový pochod z Krnova nepřežilo 300 lidí. Neorganizovali jej Němci, ale Češi

2. Jan Vodrážka: Bedřich Pokorný – Täterkarriere zwischen Systemen

In seinem Beitrag analysiert Jan Vodrážka das Leben von Bedřich Pokorný, einem Offizier des Innenministeriums und Hauptorganisator des berüchtigten Brünner Todesmarschs. Am 31. Mai 1945 wurden etwa 27.000 deutschsprachige Bewohner unter Zwang aus Brünn getrieben – viele starben auf dem Weg.

Pokorný war ein Täter im Staatsdienst – und blieb es auch in den Jahren danach. In den 1950ern beteiligte er sich an kommunistischen Säuberungen. Erst nach Stalins Tod fiel er in Ungnade, wurde inhaftiert, später rehabilitiert. 1968 nahm er sich das Leben – ein Ende ohne Gerichtsurteil, aber auch ohne wirkliche Aufarbeitung.

Vodrážka gelingt es, die biografische Ebene mit struktureller Kritik zu verbinden: Pokorný steht exemplarisch für eine Tätergeneration, die sich problemlos zwischen demokratischen, autoritären und totalitären Systemen bewegte – ohne innere Reflexion.

Gerade im Kontrast dazu wird deutlich, wie viel moralische Reife heute notwendig ist, um solche Geschichten offen zu erzählen – und um die Namen der Opfer nicht zu vergessen.

Original Beitrag auf Tschechisch

Ein Agent der Ersten Republik war sowohl für die gewaltsame Vertreibung der Deutschen als auch für den kommunistischen Umsturz mitverantwortlich.

Prvorepublikový agent měl na svědomí násilný odsun Němců i komunistický puč

3. Pan G.: Spurensuche im alten Teplitz-Schönau

Der Beitrag von „Pan G.“ nimmt uns mit in eine andere Richtung – geografisch und thematisch. Es geht um die Region Teplice (Teplitz-Schönau), genauer: um historische Kriminalfälle aus der Zeit um 1900.

Gestohlene Pferde, Bestechungsskandale, skurrile Gestalten aus alten Polizeiakten – Pan G. betreibt historische Detektivarbeit mit viel Liebe zum Detail. Auch wenn dieser Beitrag nicht unmittelbar mit Vertreibung oder Nachkriegsgeschichte zu tun hat, erzählt er von etwas Wichtigem, vom kulturellen Gedächtnis eines Ortes. Vom Versuch, Geschichte nicht nur als großes Drama, sondern auch in kleinen Alltagsgeschichten sichtbar zu machen.

Auch das ist eine Form von Reife – die Anerkennung, dass Geschichte nicht nur schwarz-weiß ist, sondern voller Grautöne, Brüche, Menschen.

Original Beitrag auf Tschechisch

Die Geschichte eines Verbrechens im Raum Teplitz-Schönau wird wieder lebendig

Ožívá historie zločinu na Teplicku

Erinnerung als Generationenaufgabe

Was diese drei jungen Autoren verbindet, ist nicht ein gemeinsames Thema, sondern eine gemeinsame Haltung. Sie schreiben nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft. Sie zeigen, dass es kein Zeichen von Schwäche ist, sich mit schwieriger Geschichte auseinanderzusetzen – sondern von Stärke und Reife.

Sie schreiben nicht anklagend, sondern suchend. Sie schreiben nicht aus ideologischen Lagern heraus, sondern aus der Überzeugung, dass es um mehr geht: um Gerechtigkeit, um Wahrheit, um Mitmenschlichkeit.

Erinnern – ein Zeichen von Reife

Wenn wir heute über Europa sprechen, über Identität, über Zusammenhalt – dann sollten wir diesen Stimmen zuhören. Denn sie zeigen, dass Wahre Reife dort beginnt, wo wir uns der Vergangenheit nicht nur stellen, sondern aus ihr lernen.

Die jungen tschechischen Autoren beweisen, dass man Geschichte nicht verklären oder verdrängen muss, um sein Land zu lieben. Im Gegenteil, wer den Mut hat, auch die dunklen Kapitel der eigenen Geschichte anzuerkennen, zeigt Verantwortungsbewusstsein, Empathie – und eben die Reife.

Diese neue Erinnerungskultur ist kein Angriff, kein Schuldeingeständnis, keine Selbstanklage. Sie ist ein Angebot für ein Dialog, für die Versöhnung, für eine Zukunft, in der wir nicht mehr schweigen müssen. Denn die Vergangenheit trennt uns nur dann, wenn wir uns von ihr beherrschen lassen.

Wer aber reif genug ist, der Vergangenheit offen zu begegnen, kann aus ihr Brücken bauen.

Original Reife zeigen durch Erinnerung – Wie junge Tschechen die Geschichte neu erzählen – www.henryertner.com

English Showing Maturity Through Remembrance — How Young Czechs Are Rewriting History

Česky Projevit zralost skrze vzpomínky – jak mladí Češi nově vyprávějí dějiny


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