Eine bewegende Geschichte über Vertreibung, Heimat und eine Liebe, die Jahrzehnte überdauerte. Wie Hans und Edith aus Hohenelbe getrennt wurden, sich wiederfanden – und mein Leben tief berührten.
Kindheit in einem Dorf voller leerer Häuser
Mein Vater Jan Ertner war in meiner Kindheit Agronom. Wir wohnten in Wildschütz, einem kleinen Ort nahe Trautenau im Riesengebirge. Als Kind wunderte ich mich oft, warum dort so viele leerstehende Häuser standen. Verlassene Gärten, verfallene Dächer, stille Höfe.
Wir Kinder spielten in den verlassenen Häusern, als wären sie geheimnisvolle Burgen. Ich war vielleicht neun oder zehn. Wir waren gerade erst nach Wildschütz gezogen, meinem Vater hinterher. Alles war neu. Ich war fremd – aber Kinder finden schnell zueinander, dachte ich.
Eines Tages kletterten wir auf den Dachboden eines alten Hauses neben der Kirche. Sonnenlicht fiel durch ein zerbrochenes Fenster auf den staubigen Boden. Wir saßen im Kreis und plötzlich stellte jemand die große Frage:
„Was willst du mal werden, wenn du groß bist?“
„Traktorfahrer, wie mein Papa!“, sagte der eine.
„Parteifunktionär – so wie mein Vater!“, rief ein anderer stolz.
Und ich? Ich sagte, ohne groß nachzudenken, ganz ehrlich:
„Ich will studieren. Ich werde Ingenieur.“
Auf Tschechisch heißt das inženýr. Seit diesem Moment nannten sie mich nur noch Inža – nicht bewundernd, sondern mit Spott in der Stimme. Ich spürte, dass ich anders war. Nicht gewollt anders – aber dennoch außen vor.
Es traf mich tief. Ich zog mich zurück. Während die anderen draußen tobten, versank ich in Büchern. Geschichten wurden mein Zuhause, Fantasie mein Trost. Ich wurde stiller, in mir wuchs der Wunsch: Eines Tages werde ich hier weggehen.
Erst viel später verstand ich was dahinter war. Vor 1945 lebten in Wildschütz rund 1.300 Menschen. Nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung waren es nur noch 400 Neusiedler. Der Rest – verschwunden. Häuser ohne Geschichten, Stimmen, Erinnerungen. Oder doch nicht?
Ich glaube, dass einige dieser Geschichten ihren Weg zu mir gefunden haben, denn da waren Hans und Edith. Da meine eigenen Großeltern früh verstorben waren, wurden Hans und Edith für mich zu so etwas wie Ersatzgroßeltern – ohne offizielles Etikett, aber mit viel Herz. Ihre Geschichte, ihre Wärme, ihre Liebe zur Heimat und zueinander haben mein Leben auf besondere Weise geprägt.
Zwei Hansis und ein sprachliches Wunder
Nach der Wende begleitete mein Vater eine Gruppe von Landwirten aus den ehemaligen LPGs des Riesengebirges ins Allgäu. Ziel war, von westdeutscher Landwirtschaft zu lernen. Mein Vater sprach als Einziger Deutsch, nicht nur das, er sprach auch Pauerisch, die Sprache der Berge – und so dolmetschte er für die Männer und Frauen aus der alten Heimat. Der Mann, der sie im Westen empfing, war Hans Steppan. Ein kleiner, drahtiger Mann, voller Energie, Humor – und mit einem Herzen, das größer war als sein ganzer Körper.
Mein Vater wurde in Tschechien von allen „Honza“ genannt – die gängige Koseform für Jan. Doch für seine Mutter Thekla war er immer „Hansi“. Ein liebevoller Rufname aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt.
Als die beiden Hansis – mein Vater und Hans Steppan – miteinander sprachen, da sah Hans Steppan Honza plötzlich an, mit diesem leicht ungläubigen Staunen, das nur alte Erinnerungen hervorrufen können, und sagte:
Honza, Mensch – du sprichst wie meine Landsleute. Wie kommt das? Wie kann das sein?
In diesem kurzen, einfachen Satz lag alles: Erstaunen, Vertrautheit, eine verborgene Verbindung. Zwei Männer, die durch Generationen, Geschichte und Vertreibung voneinander getrennt wurden – und sich doch auf einmal in Sprache, Klang, Ausdruck wiedererkannten.
Es war, als hätte die gemeinsame Heimat – das Riesengebirge – in ihren Stimmen weitergelebt. So begann eine Verbindung – zwischen meinem Vater und Hans und bald auch zwischen mir und ihm.
Hans kehrte nach der Grenzöffnung regelmäßig ins Riesengebirge zurück. Mal zum Wandern, mal um Flusssteine von der Elbe zu holen, die er für ein Denkmal in Marktoberdorf brauchte. Diese Steine mussten mühsam bergauf getragen werden – Hans, obwohl klein, schaffte das meiste allein. Ich bewunderte ihn dafür.
Ein Sommer in Marktoberdorf
Im Sommer 1992 durfte ich ihn zum ersten Mal besuchen. Zwei Wochen verbrachte ich zunächst bei Edith, dann fuhren wir gemeinsam nach Marktoberdorf. Dort arbeitete ich bei Hans – mein Sommerjob: das Fensterstreichen.
Ich erinnere mich an einen Moment, der mich tief geprägt hat. Nach dem Mittagessen legten wir uns zur Ruhe. Ich schlief anderthalb Stunden. Als ich aufwachte, war Hans empört:
So geht das nicht! Maximal 20 Minuten, dann wird weitergearbeitet.
Seine Worte sitzen bis heute tief in mir.
Jugendliebe in Zeiten der Vertreibung
Aber wer waren Hans und Edith wirklich? Beide stammten aus Hohenelbe. Beide wurden 1946 vertrieben – Hans in die Westzone, Edith in die Ostzone. Sie waren Jugendfreunde, vielleicht sogar mehr. Edith schrieb in ihren Erinnerungen:
Als die Russen in die Stadt kamen, bin ich mit Haller Christl und Bartosch Lisl auf das Dach vom Bräustübel, unserer Wohnung, gestiegen. Drei Tage blieben wir dort oben. Dann ging Christl einmal hinaus, um Brot zu holen. Dabei wurde sie von einer tschechischen Streife angehalten. Sie bekam den Befehl: Morgen fünf Uhr mit Arbeitssachen am Bahnhof! Sie gehorchte, und seitdem habe ich sie nie mehr gesehen.
Die Geschichte von Edith beschreibt das ganze Jahr, die Arbeit, die schwere Zeit von der Vertreibung und endet mit der Erinnerung an Hans:
„Froh war ich, dass Hans Steppan und ich am Pfingstsonntag ohne Erlaubnis unserer tschechischen Gebieter noch einmal ins Gebirge durften. Über Kalkkoppe, Füllebauden, durch den geliebten Lahrbusch, an Keilbauden vorbei bis hinter den Rangierbahnhof – heute Chalupa na Rozcestí – ohne dass wir einem Menschen begegnet wären. Das war unser Abschied von daheim.“
Diese Zeilen brennen sich ein. Es ist das Gesicht der Vertreibung – nicht nur politisch, sondern persönlich, schmerzhaft, endgültig, menschlich.
Verlorene Briefe und ein verspätetes Wiedersehen
Was Edith damals nicht wusste, Hans hatte nie ihre Briefe erhalten. Seine Mutter Else Steppan mochte sie nicht, hielt alles zurück und so verloren sie sich aus den Augen. Hans heiratete Elli in Marktoberdorf, bekam vier Kinder. Edith heiratete in der DDR Karl, bekam zwei Kinder. Beide arbeiteten ihr ganzes Leben lang hart, kamen mit nichts nach Deutschland, bauten Häuser, erzogen Kinder – ganz ohne Sentimentalität, aber mit großem Herzen.
Doch dann – Jahrzehnte später – suchte Hans seine Jugendliebe. Als er mit seinen Melkanlagen beruflich in Ostdeutschland war, fragte er nach ihr – und fand sie. Edith war inzwischen verwitwet. Die Wende war da.
Edith setzte sich in ihren Trabi und fuhr von Torgau nach Bayern. Für die Liebe, für die Erinnerung, für das Gefühl der verlorenen Heimat, für Hans. Zu dieser Zeit war Hans’ Frau Elli schwer krank. Edith kam erst als Besucherin – blieb dann aber. In einem kleinen Gartenhäuschen, draußen in den Feldern, in einem Waldstück, wo Hans seinen Garten hatte. Dort begann ein neues Kapitel, ein Garten, ein Paradies, ein Stück gemeinsame Heimat im Herbst des Lebens.
Ich war in den 90ern oft dort, habe auch Elli noch kennengelernt. Die ganze Geschichte wurde mir erst später bewusst – vielleicht war ich damals noch zu jung, um alles zu verstehen. Aber ich spürte, dass da etwas Besonderes war.
Ein Wiederfinden – jenseits aller Grenzen
Nach Ellis Tod kamen Hans und Edith wieder ganz zusammen. Ein Leben lang getrennt durch Mauern und Stacheldraht, fanden sie einander wieder – spät, aber nicht zu spät. Sie blieben ihrer Heimat treu, reisten immer wieder ins Riesengebirge. Ihre Geschichte war für mich wie ein stiller Beweis, dass manche Dinge einfach füreinander bestimmt sind.
1998 kam ich nach Augsburg. 1999 begann ich zu studieren. Etwa alle zwei Monate fuhr ich mit dem Zug nach Marktoberdorf und besuchte sie. Wir gingen wandern, sprachen viel, saßen im Garten. Diese Besuche waren für mich wie Inseln der Geborgenheit. Ich hatte keine Großeltern mehr – aber ich hatte Hans und Edith. Ich glaube, der liebe Gott hat sie mir geschickt. Als Geschenk. Als Trost.
Einmal, nach mehreren Becherovka und Weizenbier, fragte ich Hans:
Wie war das damals für dich – die Vertreibung?
Er schaute mich lange an und dann sagte er:
Weißt du, als ich im Lager war, und wir jede Nacht Schüsse hörten – ich wusste nicht, ob ich den nächsten Tag erlebe. Es war die schrecklichste Zeit meines Lebens. Aber als wir hier ankamen, habe ich angefangen zu arbeiten. Ich hatte Glück, in der Westzone zu landen. Stell dir mal vor, ich wäre dortgeblieben – ich wäre ein armes Schwein wie dein Vater. Heute, rückblickend, war die schrecklichste Stunde meines Lebens der Segen für mein ganzes Leben.
Es hat lange gedauert, bis ich diese Worte verstanden habe und ich bin immer noch nicht sicher, ob ich sie verstehe. Vielleicht verstehe ich sie erst später – mit all den Erfahrungen, die das Leben schreibt.
Für immer in meinem Herzen
2004 beendete ich mein Studium mit M.A.-Abschluss in Deutscher Philologie, Psychologie und Philosophie. Meine damalige deutsche Freundin verließ mich. Ich war verletzt und planlos. Ich tat das, was viele junge Männer in diesem Zustand tun: Ich suchte Halt. Ich fand ihn bei der ersten tschechischen Frau, der ich begegnete. Durch sie bin ich – auf Umwegen – zurück nach Böhmen gekommen. Heute denke ich: Vielleicht war genau das nötig, damit sich der Kreis wieder schließt.
Hans starb 2010. Unser letztes Treffen war 2008 – auf der Zugspitze, dem Dach Deutschlands. Passender hätte es nicht sein können.

Edith habe ich noch viele Male gesehen. Sie war glücklich und freundlich bis in hohes alter. Im Januar dieses Jahres waren wir mit meiner Mutter auf ihrer Beerdigung.

Hans und Edith – ich danke euch aus ganzem Herzen:
Für eure Geschichte.
Für eure Liebe.
Für eure stille Kraft.
Ich bin unendlich dankbar für jede Minute, die wir gemeinsam verbringen durften. Möget ihr im Himmel glücklich sein – vielleicht irgendwo mit Blick auf das Riesengebirge, eure Heimat, die euch nie losgelassen hat.
Julie Antonia Edith Schwürz
geb. Drescher
*7.10.1928 Hohenelbe
+7.12.2024 Torgau
96 Jahre
Hans Steppan
* 13.06.1929 Hohenelbe
+16.03.2010 Marktoberdorf
80 Jahre

Alles hat seine Zeit. Eine Zeit der Freude, der Stille und die Zeit der dankbaren Erinnerung.
Original Hans und Edith — eine Liebe über Jahrzehnte, die auch mein Leben verändert hat — www.henryertner.com
English Hans and Edith — A Love Across Decades That Also Changed My Life
Česky Hans a Edith — láska přes desetiletí, která změnila i můj život
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