Mein Name ist Henry Ertner, herzlichen Willkommen auf meinem Blog über Heritage Language and Sudetenland. Im Herbst 2017 lag mein Vater im Krankenhaus. Während eines Besuchs fragte ich ihn, was er sich noch wünsche. Seine Antwort war einfach und klar: „Ich will in die Berge! Du wohnst doch im Riesengebirge – aber ich will die Alpen sehen, und nicht nur einmal!“ Diese Worte wurden zum Ausgangspunkt einer Forschungsreise, die tief in die Geschichte der Sudetendeutschen führen sollte.

Zwischen zwei Sprachen: Aufwachsen als Enkelkind der Sudetendeutschen

Das Riesengebirge, einst Heimat deutschsprachiger Gemeinden, trägt noch heute die Spuren einer vergangenen Zeit. Hier lebten über Jahrhunderte Deutsche, Juden und Tschechen Seite an Seite, teilten Land und Kultur, bis die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und seine Folgen diese Gemeinschaft für immer veränderten. Nach 1945 wurden etwa drei Millionen Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei vertrieben. Doch etwa 250.000 durften bleiben – unter ihnen meine Großeltern.

Mein Großvater Heinrich Ertner und meine Großmutter Thekla Ertner gehörten zu den wenigen, die nicht ausgesiedelt wurden, während zehn ihrer Geschwister das Land verlassen mussten. Diese Familiengeschichte prägte mein Interesse an der deutschen Sprache und Kultur, auch wenn ich als Kind zunächst nur Tschechisch sprach. Meine Eltern hatten ihre Gründe dafür – „es ging damals anders nicht“, sagten sie später.

Die Großeltern hingegen sprachen nur Deutsch mit mir – sie hatten die tschechische Sprache nie richtig gelernt. Diese sprachliche Dualität wurde zu einem prägenden Element meiner Kindheit. Während meiner Schulzeit in Tschechien ahnte ich noch nicht, dass diese persönliche Geschichte Teil eines größeren Narrativs war. Erst während meines Studiums an der Universität in Liberec (früher Reichenberg) begann ich, über die Grenzen Tschechiens hinauszublicken.

Von der persönlichen Erfahrung zur Forschungsfrage

Der Weg führte mich nach Bayern (1998), wo ich zunächst die deutsche Sprache auf universitärem Niveau erlernen musste. Doch das Lernen fühlte sich seltsam vertraut an – als würde ich mich an etwas erinnern, was nur kurzzeitig in Vergessenheit geraten war. 2004 war ich mit meinem Magisterstudium fertig und wie es so ist, hat mich die Liebe zurück nach Prag gebracht. In 2018 nach dem Zwischenfall mit meinem Vater habe ich mit meiner Dissertation „Deutsch als „Heritage Language“ im Riesengebirge an der Universität Augsburg bei Prof. Dr. Alfred Wildfeuer begonnen.

Heute würde ich mich Henry Ertner als „Heritage Speaker“ der deutschen Sprache bezeichnen – jemand, der eine kulturelle und sprachliche Verbindung zu seinen Wurzeln hat. Diese persönliche Erfahrung führte zu der Frage, ob es auch andere Menschen gibt, die Ähnliches erlebt haben.

  • Wie viele der nicht ausgesiedelten Sudetendeutschen haben ihre Sprache und Kultur an die nächsten Generationen weitergegeben?
  • Unter welchen Bedingungen geschah diese Übertragung, und was bedeutet das für die Identität der Nachkommen?

Das traditionelle Verständnis besagt, dass die „Heritage Language“ – die Sprache des kulturellen Erbes – in der dritten Generation verloren geht.

Doch stimmt das? Diese Frage wurde zum Kern meiner Forschung. Im Riesengebirge, wo einst deutsche Bergleute in der Schatzlarer Grube arbeiteten und wo meine Familie ihre Wurzeln hat, begann ich nach Antworten zu suchen. In der Zwischenzeit haben wir aber auch mit meinem Vater die Alpen besucht und wie sich es sowohl in Bayern als auch in Tschechien gehört ein Bierchen getrunken.

Eine Reise durch Zeit und Sprache: Das Forschungsprojekt

Die Geschichte der Sudetendeutschen ist mehr als nur eine Geschichte von Vertreibung und Verlust. Sie ist auch eine Geschichte von Bewahrung und Anpassung, von Menschen, die zwischen den Kulturen lebten und leben. Ihre Erfahrungen werfen wichtige Fragen auf:

  • Wie überlebt eine Sprache unter dem Druck der Dominanz einer anderen?
  • Wie formt sich Identität, wenn die kulturellen Wurzeln in verschiedene Richtungen weisen?

Diese Fragen führten schließlich zu meiner Dissertation „Deutsch als „Heritage Language“ im Riesengebirge“. Es ist eine Untersuchung, die nicht nur die linguistischen Aspekte betrachtet, sondern auch die menschlichen Geschichten dahinter – Geschichten wie die meiner Familie, die exemplarisch für viele andere stehen. Deutsch war immer da – versteckt in den Geschichten meiner Großeltern und Eltern, in den Erinnerungen an eine Zeit, die ich selbst nicht erlebt habe.

Das Riesengebirge ist nicht nur ein Ort in einer Landkarte. Es ist ein Stück Geschichte, das mich geprägt hat. Meine Dissertation ist für mich deshalb mehr als eine wissenschaftliche Arbeit – sie ist ein persönliches Projekt. Ein Versuch, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden. Mein Vater hat die Alpen noch gesehen, bevor er uns verließ. Und seine Sehnsucht nach den Bergen wurde zu einem Forschungsprojekt, das die vergessene Welt der Sudetendeutschen und ihrer Nachkommen erkundet – eine Welt, die mehr denn je relevant ist in einem Europa, das noch immer nach Wegen sucht, mit seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt umzugehen.

Deutsch Der Anfang der Geschichte von Heimat, Identität und Sprache

English The Beginning of the Story Homeland, Identity, and Language

Česky Začátek příběhu o domově, identitě a jazyce


0 Antworten zu „Der Anfang der Geschichte von Heimat, Identität und Sprache“