Der Begriff „Heritage Language“ ist ein relativ neues Konzept in der Sprachwissenschaft, das vor allem in den USA entwickelt wurde, inzwischen aber weltweit Anwendung findet. Es beschreibt Sprachen, die innerhalb einer Gemeinschaft oder Familie über Generationen hinweg weitergegeben werden, oft jedoch unter dem Einfluss einer dominanten Umgebungssprache an sprachlicher Substanz verlieren. Während der Begriff ursprünglich für Immigrantengruppen in den USA geprägt wurde, lässt er sich auch auf historische deutschsprachige Siedlungsgebiete in Europa anwenden.

Übersichtskarte der Verbreitung der Deutschen in Europa, Kiepert Heinrich, 1818-1899, Veröffentlicht 1887, Berlin, Verlag Dietrich Reimer, Original Yale University Library
https://digital.library.yale.edu/catalog/15259116
Ursprung und Definition des Begriffs „Heritage Language“
Das Konzept der „Heritage Language“ wurde vor allem durch die Arbeiten von Polinsky und Kagan (2007) geprägt. Sie definieren Heritage-Sprecher als Personen, die in einer Familie mit einer Minderheitensprache aufwachsen, diese jedoch nicht vollständig ausbilden, weil die dominante Umgebungssprache überwiegt. Valdés (2000) beschreibt sie als Individuen, die zuhause eine Sprache lernen, die nicht die Mehrheitssprache der Gesellschaft ist, in der sie leben.
In den USA wird das Konzept hauptsächlich auf Immigranten und deren Nachkommen angewandt, wobei Heritage-Sprecher oft in einer bilingualen Situation aufwachsen. Ähnliche Mechanismen lassen sich jedoch auch in Europa beobachten, insbesondere in Gebieten mit ehemals deutschsprachigen Minderheiten wie Tschechien, Polen, Ungarn und Slowakei (siehe Landkarte)
Deutsch als „Heritage Language“ in Europa
Historisch gesehen gab es in Mittel- und Osteuropa zahlreiche Regionen mit deutschsprachigen Bevölkerungen. Dazu zählen:
- Russland und Kasachstan (Wolga- und Schwarzmeerdeutsche)
- Ukraine und Moldawien
- Polen (Schlesien, Masuren)
- Tschechien (Sudetenland)
- Slowakei
- Ungarn und Rumänien (Siebenbürger Sachsen, Donauschwaben)
Obwohl diese Gruppen oft über Jahrhunderte ihre Sprache erhalten konnten, setzte mit politischen und sozialen Veränderungen – insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Vertreibung – eine zunehmende Assimilation der Hinterbliebenen ein. Die dominanten Nationalsprachen verdrängten das Deutsche, sodass es in vielen Fällen nur noch rudimentär oder gar nicht mehr weitergegeben wurde. Die traditionelle Annahme, dass eine „Heritage Language“ in der dritten Generation verloren geht, wird durch diese Entwicklungen bestätigt.
Fallbeispiel: Das Sudetenland
Ein besonders aufschlussreiches Beispiel für den Wandel des Deutschen als „Heritage Language“ bietet das Sudetenland. Vor 1945 war es ein Kerngebiet der deutschsprachigen Bevölkerung in Böhmen, Mähren und Schlesien. Durch die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Region ihre deutschsprachige Prägung fast vollständig. Dennoch gibt es bis heute Spuren der Sprache, vor allem bei den wenigen verbliebenen Nachkommen sowie in Form von kulturellem Erbe.
Meine eigene Forschung zu „Deutsch als „Heritage Language“ im Riesengebirge“ hat gezeigt, dass auch Jahrzehnte nach der Vertreibung noch vereinzelt Sprachreste existieren. Ältere Generationen sprechen Deutsch, erinnern sich an deutsche Begriffe, Lieder oder Redewendungen, die jedoch meist nicht mehr aktiv gesprochen werden. In manchen Familien gibt es ein bewusstes sprachliches Erbe, das sich allerdings oft auf nostalgische Erinnerungen oder einzelne Begriffe beschränkt.
Vergleich mit anderen Regionen und Forschungsperspektiven
Während das Sudetenland ein prominentes Beispiel für den Sprachverlust durch politische Umwälzungen ist, gibt es ähnliche Prozesse in anderen Regionen der Welt. Deutsche Sprachinseln existieren beispielsweise in den USA, in Brasilien oder in Namibia. Auch in Neuseeland gibt es kleinere deutschsprachige Gemeinschaften. Die Forschung zu diesen Gruppen bietet wertvolle Vergleiche für das Verständnis von Sprachwandel und vor allem Sprachverlust.
Prof. Dr. Alfred Wildfeuer, mein Doktorvater, beschäftigt sich intensiv mit diesen Fragen und untersucht unter anderem Spracherhalt, Sprachwandel und Sprachtod in mehrsprachigen Räumen. Seine Arbeiten zeigen, dass sich Sprachkontaktphänomene oft nach ähnlichen Mustern vollziehen, unabhängig davon, ob es sich um eine Migrantengemeinschaft in den USA oder eine historische Sprachminderheit in Europa handelt.
„Heritage Language“ Ein breiteres Phänomen mit lokaler Verankerung
Deutsch als „Heritage Language“ ist ein hochaktuelles Forschungsfeld, das weit über einzelne Regionen hinausgeht. Während mein Fokus auf dem Sudetenland liegt, zeigen vergleichbare Entwicklungen weltweit, dass Sprache nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch ein identitätsstiftendes Element ist. Der Sprachverlust ist kein Naturgesetz – durch gezielte Sprachpflegeprogramme oder den wachsenden akademischen und gesellschaftlichen Diskurs zu diesem Thema können zumindest Teile dieser sprachlichen Erbschaften bewahrt werden.
Literaturverzeichnis
- Berend, Nina (1998). Sprachliche Anpassung: Eine soziolinguistisch-dialektologische Untersuchung zum Rußlanddeutschen.
- Bergner, Christoph (2013). Deutsch als Identitätssprache der deutschen Minderheiten.
- Carreira, Maria & Kagan, Olga (2017). Heritage language education: A proposal for the next 50 years.
- Carreira, Maria & Kagan, Olga (2017). The Routledge Handbook of Heritage Language Education.
- Dück, Katharina (2014). Zum Zusammenhang von Sprache und ethnischer Identität.
- Elabbas Benmamoun, Silvina Montrul & Maria Polinsky (2013). Heritage languages and their speakers: Opportunities and challenges for linguistics.
- Fishman, Joshua A. (1970). Sociolinguistics: Brief Introduction. Rowley/Mass.
- Ho, Jennifer (2011). Cultural Heritage Language in Third Generation Chinese-Americans.
- Kresic, Marijana (2006). Sprache, Sprechen und Identität.
- Polinsky, Maria & Kagan, Olga (2007). Heritage languages in the wild and in the classroom.
- Riehl, Claudia Maria (2008). Handbuch der deutschen Sprachminderheiten in Mittel- und Osteuropa.
- Valdés, G. (2000). Teaching heritage language learners: Voices from the classroom. Yonkers, NY: ACTFL.
- Valdés, G. (2001). Heritage languages in America: Preserving a national resource.
- Valdés, G. (2005). Bilingualism, heritage language learners, and SLA research: Opportunities lost or seized? The Modern Language Journal, 89(3), 410-426.
- Wildfeuer, Alfred (2010). Spracherhalt, Sprachwander und Sprachtod im mehrsprachigen Raum.
- Wildfeuer, Alfred (2017). Sprachinseln, Sprachsiedlungen, Sprachminderheiten.
Deutsch Deutsch als „Heritage Language“
English German as a „Heritage Language“
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