Der 4. März 1919 ist ein Datum, das in der deutschen und tschechischen Geschichte einen tiefen Einschnitt markiert, aber in der tschechischen Erinnerungskultur weitgehend in Vergessenheit geraten ist. An diesem Tag fanden in mehreren sudetendeutschen Städten Demonstrationen für das Selbstbestimmungsrecht statt, die von der neuen tschechoslowakischen Armee blutig niedergeschlagen wurden.
54 Menschen kamen dabei ums Leben. Diese Ereignisse stehen symbolisch für die oft konfliktreiche, aber auch tief verwobene Geschichte von Tschechen und Deutschen in den historischen Regionen Böhmens, Mährens und Schlesiens. Heute, über 100 Jahre später, ist dieses Kapitel der Geschichte in Tschechien kaum präsent.
Viele Tschechen wissen wenig über die 800 Jahre gemeinsame Geschichte mit den Sudetendeutschen. Dabei bietet die Aufarbeitung dieser Vergangenheit eine große Chance für Versöhnung und eine tiefergehende Zusammenarbeit zwischen beiden Völkern.
Historische Darstellung und Erinnerungskultur
Die Demonstrationen am 4. März 1919 fanden in mehreren Städten der neuen Tschechoslowakei statt, darunter Eger, Karlsbad und Kaaden. Sie waren eine Reaktion auf die Weigerung der neuen tschechoslowakischen Regierung, das Selbstbestimmungsrecht der deutschsprachigen Bevölkerung anzuerkennen. Der Erste Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen, und die politischen Umwälzungen waren gewaltig.
Während das tschechoslowakische Narrativ lange Zeit nur die nationale Befreiung betonte, sind die Ereignisse des 4. März 1919 ein unauflöslicher Bestandteil der sudetendeutschen Erinnerungskultur geblieben. In Tschechien hingegen gibt es nur wenige Stimmen, die sich mit diesem dunklen Kapitel auseinandersetzen.
Reflexion auf beiden Seiten – Zwei Seiten derselben Medaille
In Deutschland gab es eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Viele Familien mussten sich damit konfrontieren, dass ihre Großväter in der Gestapo oder der SS waren und an Verbrechen beteiligt waren. Dies führte zu einer breiten gesellschaftlichen Reflexion, aus der gelernt wurde, um eine bessere Zukunft zu gestalten.
In Tschechien hingegen waren viele Großväter Mitglieder der Revolutionsgarden, die nach 1945 oft nicht viel besser handelten als die SS-Männer auf deutscher Seite. Auch hier gab es Gräueltaten, Vergewaltigungen, Folter, Zwangsumsiedlungen und Morde. Doch diese Perspektive wurde in der tschechischen Öffentlichkeit bislang kaum reflektiert.
Diese Erkenntnis schulden wir der Vergangenheit: Auf beiden Seiten gab es Täter, und auf beiden Seiten gibt es heute Brückenbauer, Hoffnung und eine zukunftsorientierte Zusammenarbeit. Erst wenn beide Seiten die gesamte Geschichte wahrnehmen, kann ein echter Dialog entstehen. Mögen alle Opfer an allen Seiten das Licht finden.
Stimmen zur Erinnerung
Obwohl das Thema in der tschechischen Öffentlichkeit wenig Beachtung findet, gab es in den letzten Jahrzehnten einige Erwähnungen in Medien. Folgende Auflistung beschäftigt sich nicht mit wissenschaftlichen Arbeiten der Historiker, sondern mit Online zugänglichen Quellen.
Hier sind einige der Stimmen in chronologischer Reihenfolge:
- Mitteleuropa.de (1999): Ein literarischer Zugang zur Erinnerungskultur in Form eines Gedichts. Auch wenn es keine historische Analyse bietet, zeigt es, dass das Thema in deutschen Kreisen weiterhin präsent bleibt. http://www.mitteleuropa.de/19190304-01.htm

- Wikipedia-Artikel (2.1.2005): Ein erster umfassender Überblick in deutscher Sprache, der die Ereignisse detailliert darstellt. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch kaum tschechische Quellen, die sich mit dem Thema befassen. https://de.wikipedia.org/wiki/Demonstration_der_Sudetendeutschen_am_4._M%C3%A4rz_1919
Ab 2011 finden sich erste Reflexionen in den tschechischen Medien:
- Bericht von ČT24 (4.3.2011): Der öffentlich-rechtliche Fernsehsender erinnert an die Blutopfer der deutschen Minderheit. Dies ist einer der ersten Fälle, in denen eine tschechische Plattform die Ereignisse von 1919 überhaupt thematisiert. https://ct24.ceskatelevize.cz/clanek/domaci/pri-vzniku-ceskoslovenska-tekla-nemecka-krev-226850
- Tschechischer Wikipedia-Artikel (25.3.2015): Die tschechische Perspektive auf das Thema wird dokumentiert, allerdings ohne tiefere Reflexion über die Verantwortung der neuen Regierung von 1919. Dennoch ist es ein Zeichen dafür, dass das Thema langsam auch in tschechischen Diskursen auftaucht. Die Namen der Opfer sind aufgelistet auf Tschechisch. Zwischen den Toten sind auch fünf Tschechen. https://cs.wikipedia.org/wiki/Sudetsk%C3%A1_demonstrace#:~:text=Tzv.,pobytu%20v%20nov%C3%A9m%20%C4%8Deskoslovensk%C3%A9m%20st%C3%A1t%C4%9B.
- Artikel auf idnes.cz (29.10.2018): Eine historische Reflexion zur sudetendeutschen Provinz „Deutschböhmen“ und den damaligen Konflikten. Der Artikel stellt eine Annäherung an die Thematik dar, ohne jedoch eine tiefergehende Auseinandersetzung zu wagen. https://www.idnes.cz/usti/zpravy/nemecka-provincie-deutschbohmen-100-vyroci-vznik-ceskoslovenska-usti-nad-labem.A181029_435994_usti-zpravy_vac2
- Vortrag der tschechischen Legionärsvereinigung (7.3.2019): Eine Veranstaltung über die Ereignisse des 4./5. März 1919 in Karlsbad zeigt, dass das Interesse an dieser Thematik wächst – allerdings aus einer tschechisch-nationalen Perspektive. https://www.csol.cz/akce/prednaska-4-a-5-brezen-1919-v-karlovych-varech/
- Artikel auf idnes.cz (10.3.2019): Berichterstattung über die Demonstrationen in Kaaden. Der Artikel greift das Thema auf, bleibt aber größtenteils beschreibend, ohne tiefere Reflexion über die damalige Gewalt. https://www.idnes.cz/usti/zpravy/kadan-nemci-kadansky-brezen-1919-vlajka-masakr-manifestace-demonstrace.A190304_461424_usti-zpravy_pakr
- Novinky.cz (24.3.2019): Ein kritischer Blick auf die Instrumentalisierung des Massakers durch die Nationalsozialisten. Hier wird das Thema in einen weiteren historischen Kontext gesetzt, was zeigt, dass eine differenziertere Auseinandersetzung beginnt. https://www.novinky.cz/clanek/kultura-sudetsky-tulak-naciste-cynicky-zneuzili-kadansky-masakr-z-roku-1919-40275337
Mut zur Diskussion
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es in Tschechien durchaus Stimmen gibt, die sich mit der gemeinsamen Geschichte auseinandersetzen wobei erst 100 Jahre nach dem eigentlichen Ereignis. Dennoch bleibt die breite gesellschaftliche Diskussion aus.
Es braucht Mut, solche Themen offen anzusprechen, um Vorurteile abzubauen und eine gemeinsame europäische Zukunft auf Augenhöhe zu gestalten. Brückenbauen bedeutet nicht, die Vergangenheit zu ignorieren oder einseitige Schuldzuweisungen zu machen. Vielmehr geht es darum, die komplexe Geschichte gemeinsam zu reflektieren, um daraus zu lernen.
Nur wenn beide Seiten ihre Geschichte kennen und anerkennen, kann eine echte Versöhnung stattfinden.
Auf tschechisch Smíření a vzpomínka na 4. březen 1919
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